Die Kunst des Forschens

Beitrag für das Buch: Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor 
Erschienen im April 2016  im Henschel Verlag

Zwischen 1990 und 1994 war das Theater am Turm für meine Entwicklung als Regisseur und Bühnenbildner der wichtigste Ort überhaupt. Die Möglichkeit professionelle Mittel des Stadttheaters mit dem Denken der freien Szene zu kombinieren, haben mir vier außerordentliche Produktionen ermöglicht, die so nie an einem andern Ort hätten entstehen können. Entscheidend dafür war die Entwicklung des TAT ab 1986 weg von einem Ensembletheater hin zu einem Projekt- und Ko-Produktionsort. Ohne die Gründung der Frankfurter Kulturgesellschaft, deren Leiter Christoph Vitali die neue Kunsthalle Schirn zusammen mit dem TAT und dem Mousonturm modellhaft geführt hat, wäre die inhaltliche und künstlerische Öffnung nicht gelungen.

Im TAT wurde 1989 mit der Produktion „Die Andre Uhr“ von Elke Lang und Xenia Haussner, einer begehbaren Bildertheaterinstallation ohne Zuschauerraum, der erste Höhepunkt dieser Entwicklung sichtbar. Der Erfolg beim Publikum und der Presse gab dem künstlerischen Leitungsteam des Theater am Turm um Tom Stromberg und Ulrike Schiedermaier den nötigen Rückhalt, um gemeinsam mit dem Verwaltungschef Hellmut Seemann künstlerisch, organisatorisch und finanziell Unmögliches möglich zu machen. Eingeladenen Künstlern und Künstlerinnen wurde die maximale Freiheit beim entwickeln ihrer Projekte gewährt, wie zum Beispiel 1990 auch mir bei „Newtons Casino“.

Bereits im ersten Gespräch ließ Tom Stromberg mir als Bühnenbildner ohne Regieerfahrung freie Hand für mein Projekt ohne Text- oder Musikvorlage. Das Bühnenbildkonzept orientierte sich an Heinrich Schliemanns Raummodell verschiedener Zeitschichten bei der Ausgrabung der Stadt Troja und füllte schließlich den gesamten Bühnen- und Zuschauerraum vom Boden bis zur Decke des Theaters. Auf dem Balkon blieben gerade noch 90 Plätze für die Zuschauer übrig. Damit war der installative Teil des Projekts fixiert und wurde von der Theaterleitung akzeptiert.

Nur gab es keine Performer, keinen Text oder Co-Autor. Ein fertiges Bühnenbild ohne Stück kehrt den „normalen“ Produktionsablaufs an einem Theater eigentlich um. In diesem Fall konnte ich Heiner Goebbels mit dem fertigen Raumkonzepts, das ihn faszinierte, für eine Zusammenarbeit gewinnen und dieser Abend wurde schliesslich mit drei Performern als einmaliges „Ensuite Projekt“ im TAT gezeigt. Trotz des technischen Aufwands wurde die Produktion aber auf das Hamburger Kampnagelfestival und zu den Wiener Festwochen eingeladen und in Frankfurt mehrmals wieder aufgenommen. Dass Erfolg im Nachhinein das Risiko rechtfertigt, ist leicht gesagt. Im Theater am Turm war das Hinterfragen von Produktionsabläufen schon damals der Normalzustand im permanenten Ausnahmezustand, denn wenn über die Zukunft des Theaters geforscht wurde dann hier. Mir gab die Entscheidung der Leitung, ohne festes Schauspielensemble Theater zu produzieren und statt dessen den Künstlern und Künstlerinnen eine Globalsumme ohne Bindung an Personal- oder Materialkosten zur Verfügung zu stellen, überhaupt erst die Möglichkeit den Fokus extrem wie bei „Newtons Casino“  auf das Bühnenbild zu legen oder wie bei meiner Arbeit „Real Life“ 1994 alles in die Sänger und Sängerinnen des vierzigköpfigen Sankt Petersburger Kammerchores  zu investieren. Meine Nachtasyladaption mit dem russischen A capella Chor bekam intern den Titel „ avantgardistisches Bauerntheater“  zeigt aber die Bandbreite des Forschungsbetriebs TAT.

Als Wahlfrankfurter von 1982 bis 1993 schaue ich inzwischen mit Distanz auf die kulturelle Entwicklung Frankfurts und sehe die Eingliederung des TAT in die Städtischen Bühnen als grossen Fehler an. Die Schliessung des TAT einige Jahre später war da die logische Konsequenz, weil diese künstlerische Forschungsstätte in direkter finanzieller Konkurrenz zur Oper und zum Schauspiel keine vergleichbare Lobby im Kulturausschuss der Stadt Frankfurt fand. Das obwohl die späteren Erfolge der Absolventen des Giessener Studiengangs der Angewandten Theaterwissenschaften im deutschsprachigen Stadttheater nicht ohne das TAT denkbar sind, genauso wie die Forschungsarbeit und Veröffentlichungen Prof. Hans Thies Lehmanns an der Johann Wolfgang Goethe Universität auf die Produktionen des Theater am Turms angewiesen waren.

Was nicht vergessen werden sollte, ist die einmalige Arbeitsatmosphäre, die herausragende Theaterschaffende wie Jan Fabre, Heiner Goebbels, Gob Squad, Jan Lauwers und die Need Company, Stefan Pucher, René Pollesch an das Theater am Turm gebunden hat. Das TAT mit seiner Struktur und Kultur des offenen Denkens und Produzierens war die Plattform für ein neues Theater, dass diese Künstler und KünstlerInnen seit den 90er Jahren in Europa geprägt haben.