Rechnitz

ein Gespräch mit Michael Simon und Regina Guhl über das Zufallsprinzip in der Kunst

Kennen Sie den Ort Rechnitz?

Ich hatte vor ungefähr einem Jahr eine Führung. Es war ein wunderschöner sonniger Tag. Das Schloss war nicht mehr da, was ich natürlich wusste. Ich kannte seine Ausmaße von Fotos, es war ein sehr großes Schloss. Seit meiner Kindheit sind wir Ruinen schauen gegangen, erst mit den Eltern, dann, egal wo ich hinkam, in ganz Europa. Normalerweise bleibt irgendwas übrig, ein paar Steine. Aber hier war nichts. Dass in einem Ort, der so klein ist wie Rechnitz, etwas so Großes komplett unsichtbar ist, fand ich erstaunlich. Ein Kreuzstadl steht noch, ist aber wohl eher nicht der Ort, an dem die Erschießungen stattgefunden haben. Das ehemalige Wirtschaftgebäude ist inzwischen ein Mahnmal, das zu einem Museum ausgebaut werden soll. Aber man sieht den Kreuzstadl nur, wenn man es weiß.

Er steht genau gegenüber von einem nagelneuen Billa-Supermarkt. Du fährst an der Ortstafel „Rechnitz“ vorbei, links siehst du eine große rotgelbe Supermarkt-Tafel, rechts führt ein überwachsener Feldweg zum Kreuzstadl. Aber es gibt keinen Wegweiser dorthin. Ein Gedenkstein existiert auch – aber kein Hinweis darauf. Vielleicht hat sich das ja seit dem letzten Sommer verändert, viele Leute arbeiten engagiert daran.

Sie haben eine ganze Reihe von Jelinek-Texten inszeniert. Ist Rechnitz eine neue Herausforderung?


Es ist sicher der politischste Text. Das ist neu für mich, dahin habe ich mich bisher noch nicht vorgewagt. Im Gegensatz zu den Prinzessinnendramen, der Winterreise, ja sogar Ulrike Maria Stuart hat er „schweres historisches Gepäck“, das wir in jeder Sekunde auf der Bühne mit uns schleppen. Das geht ja nicht weg. Selbst wenn die Toten irgendwann gefunden werden, bleibt die Frage nach Schuld, Vergessen, Gründen für die Ungeheuerlichkeit und Sinnlosigkeit dieses Massakers. Diese Unterfangen ist schon mehr als ein „nur“ künstlerischer Auftrag.Ich bin gespannt, was sich erzählen wird, wenn sich die Puzzleteile unseres Materials zur Premiere zusammenfügen.

Was meinen Sie mit „Puzzleteilen“?

Wir haben einen zusammengesuchten Bilderpark, eine Reihe von gemalten Prospekten aus verschiedenen Theatervorstellungen, eine große Holzwand, aufblasbare Hüpfburgen. Es gibt Objekte, die assoziativ entstanden sind und die eine Phantasie freisetzen. Ich arbeite immer zunächst mit einer Art Bildauswahl, einem Pool von Elementen, die aus der Lektüre des Textes erwachsen.

Wie stellt man denn die Vision eines Schlosses her, das nicht mehr existiert, aber wahnsinnig aufgeladen ist? Wie inszeniert und spielt man einen Text, der ständig aggressiv Fakten anführt und sie im nächsten Augenblick infrage stellt?

Elfriede Jelinek stellt ebenfalls eine Materialvorlage zur Verfügung. In unserem Fall sind das 100 dichtgedruckte Seiten ohne Rollenverteilung. Die Autorin liefert das sprechbare Material, von dem dann einzelne Elemente zusammen mit den Schauspielern, den Musikern, dem Raum, den Objekten einen Theaterabend ergeben sollen. Im Verlauf der Proben kristallisiert sich das Verhältnis Körper-Wort-Raum heraus. Im Idealfall gibt es einen Dialog zwischen dem Körper, dem Objekt, dem gesprochen Wort, der Musik auf der Bühne.

Ich liebe es, wenn die Dinge ihre Freiheiten haben. Das ist ein Risiko, macht die Arbeit aber auch leichter, wenn man Lust hat, sich an diesem Prozess zu beteiligen – für Schauspieler wie für Technische Direktoren oder Dramaturgen. Wenn man gemeinsam dieses Risiko eingeht, ist die Chance für unerwartete Findungen hoch. Plötzlich merkt man, dass Sätze sich einklinken in ein Bild. Andere Elemente fliegen wieder raus. So was gibt der ganzen Gruppe eine große Kraft.

Sie haben als Bühnenbildner und Lichtdesigner bei der Tanztheaterlegende William Forsythe begonnen und arbeiteten seither parallel auch als Regisseur. Hat das Tanztheater sie geprägt?

Ja und zwar ganz simpel: Ich war bei Forsythe immer auf allen Proben dabei. In der choreographischen Arbeit startet man bei Null. Aber noch bevor man weiß, wie viele Tänzer oder welche Musiken man verwenden wird, braucht man ein Raumkonzept. Man startet also mit Bildern im Kopf. Liest. Redet über alle möglichen Dinge. Was man so gemeinhin „freie Projektarbeit“ nennt, ist im Tanztheater der Normalzustand. Für mich ist es egal, ob das Theater, an dem ich arbeite Opernhaus, Schauspielhaus oder freie Produktionsstätte heißt. Solange ich als Regisseur die Freiheit dieser Entwicklung habe.

Egal mit welchem Text?

Ich habe einiges ausprobiert, aber mit Elfriede Jelinek begann eine neue Etappe. Sie ist für mich die Autorin, die unsere heutige Wahrnehmung der Welt am genauesten fasst. Weil sie die Unmenge hierarchiefreier Eindrücke thematisiert, das unablässige Gerede, die ganze Flut von widersprüchlichen Informationen, denen wir unablässig ausgesetzt sind.Wir leben jetzt seit 20 Jahren mit dem Internet und es gibt kein Stück, das diesem Umstand auch nur ansatzweise gerecht wird. Bestenfalls wird kolportagehaft darüber berichtet. Das Jelineksche Schreiben ist eine Übersetzung dieses ununterbrochenen Datenstroms, den wir problemlos in unseren Alltag integrieren. Sie kann das erfassen und künstlerisch formen, weil sie die Regeln einer sinnstiftend sortierenden Dramaturgie verweigert. Sprache ist Sprache, so wie Information Information ist. Ungefiltert und von niemandem zur Wahrheit sortiert. Das müssen wir schon selbst besorgen – aber Gewissheit kriegen wir keine. Jelineks Sprache ist auch die bildhafteste, die ich kenne. Ich nenne sie gern eine „Skulptur“. Ein Jelinek-Text ist für mich eine dreidimensionale übergroße Skulptur, aus der ich versuche, ein paar Dinge herauszumeißeln, so dass ein darstellbarer Kern übrigbleibt. Die übrigen Worte fliegen aber immer noch herum. Elfriede Jelinek thematisiert in fast all ihren Texten die Notwendigkeit UND die Vergeblichkeit ihres Schreibens.

Was bedeutet das im Fall Rechnitz?

Frau Jelinek ist sehr realistisch, fast pragmatisch. Als Schriftstellerin weiß sie um die Begrenztheit ihrer Wirkung. Die Stimme zu erheben ist noch keine politische Tat: Sie weiß, sie kann schreien, so laut sie will – das allein wird die Welt nicht ändern. Aber sie tut es immer weiter. Ich habe das Gefühl, sie schreibt, um am Leben zu bleiben. Wenn sie nicht mehr schriebe, würde sie sterben. Ich finde das sehr berührend. In dieser ganzen Sprachflut, die sie über uns ausgießt, hat man immer das Gefühl, sie könnte an jedem Satz ersticken, der nicht raus darf. Sie schreibt für mein Empfinden ohne jede Koketterie und ohne Zynismus.

Und was suchen Sie in der Kunst?

Sicher eine Art Wahrheit auf der Bühne. Darstellung ist immer Darstellung von etwas Konkretem. Aber ich habe zum Beispiel im Zusammenhang mit Rechnitz keinen „Skandalerfüllungsdruck“. Die Botin Steffi Krautz sagt an einer Stelle ziemlich trocken zum Publikum: „Ich sehe es Ihnen doch an – nichts fasziniert Sie so sehr wie diese Zeit.“ Die Tatsache, dass man alles über die Gräuel schon 1000 Mal gehört hat, macht ja nichts besser. Das weiß Frau Jelinek selbstverständlich. Wonach also gräbt sie? Sie gräbt nach notwendigen Argumenten und Zeugnissen dafür, den Satz „Die Toten sind eben tot“ niemals zu akzeptieren. Denn was hieße das? Das war „unwertes Leben“? Aber sie weiß auch, dass sie das alles erlösende Argument, die alles erlösende Begründung nie finden kann. Deshalb müssen die armen Boten dauernd weiterarbeiten. Sie sind ein Enthusiast, das merkt man in jeder Minute auf den Proben.

Können Sie mir sagen, wozu ein Theater wie das unsere heute noch gut ist?

Es ist nicht allzu lange her, da gab es in unserer Gesellschaft noch eine Verabredung darüber, was ein kultureller Raum ist. Dieser Raum, ob „independent“ oder „institutionalisiert“, wird gerade von allen Seiten zusammengepresst – und der kommerzielle Raum bläht sich auf: Kultur = Investitionsmaschine. Ich habe gerade in Zürich Batman als Musical im Hallenstadion für 10.000 Menschen gesehen, faszinierend, eine grosse Maschinen-Stunt-Show. Wenn wir die Zuschauer vom heimischen Sofa zu uns ins Theater locken können, haben wir schon viel erreicht, aber das Theater muss immer auch einen Raum für Reflexionen bieten. Wir müssen immer wieder neu definieren, was und wie wir etwas erzählen. Das nimmt uns kein "Kanon" mehr ab. Ich brauche jedenfalls ein Theater aller Sinne, rauschhaft soll es sein. Ich mag barocke Überwältigung durch Bilder, Musik und Text und Bewegung.